Zwischen Schuld und Sehnsucht

Über Schuldgefühle – echte, übernommene und die, die wir nicht benennen können

„Nicht alles, wofür wir uns schuldig fühlen, ist unsere Schuld. Aber alles, was wir fühlen, gehört zu uns.“

Schuldgefühle sind wie Schatten. Sie kommen oft leise, und sie bleiben lange.
Manchmal wissen wir, was wir getan haben. Und manchmal fühlen wir uns schuldig – einfach dafür, dass wir existieren, Grenzen setzen, weitergehen.

Nicht alle Schuld ist gleich. Manche ist real. Manche ist übernommen. Und manche entsteht aus der unerfüllten Sehnsucht, geliebt zu werden.

Wofür fühlen wir uns schuldig?

  • Wenn wir jemandem wehtun

  • Wenn wir Nein sagen

  • Wenn wir uns verändern, während andere stehenbleiben

  • Wenn wir leben, wo andere leiden

  • Wenn wir jemanden enttäuschen, der uns wichtig ist

  • Doch oft ist das Gefühl der Schuld größer als das tatsächliche Geschehen. Es wirkt tief, weil es nicht nur zum Jetzt gehört – sondern zur Geschichte.

Übernommene Schuld – die stille Last

Viele Menschen tragen Schuldgefühle, die nicht aus ihren eigenen Handlungen stammen, sondern aus Bindungen.

Wenn Kinder z.B. spüren, dass ihre Eltern leiden, übernehmen sie oft unbewusst Verantwortung. Sie fühlen sich schuldig für die Traurigkeit, den Rückzug, das Unglück anderer – als ob ihr eigenes Glück verboten wäre. So entsteht ein Schuldgefühl, das gar nicht auf Handlung beruht – sondern auf Bindungstreue.

Schuld aus Wut – nach innen gerichtet

Schuldgefühle können auch Ausdruck einer nach innen gewendeten Wut sein. Wenn Kinder ihre Wut nicht nach außen richten dürfen – aus Angst, Liebe oder Zuwendung zu verlieren – wird sie umgelenkt und kann sich in ein Schuldgefühl verwandeln. Die Aggression bleibt erhalten, aber sie richtet sich gegen das eigene Selbst. So entstehen Formen der Selbstabwertung, des Rückzugs oder der Depression, die als Schuldgefühle erscheinen.

Frühe Schuldgefühle – eine bindungstheoretische Perspektive

Schuldgefühle können sich sehr früh entwickeln. Schon kleine Kinder spüren intuitiv, ob ihre Eltern belastet oder emotional verfügbar sind. Wenn sie z.B. erleben, dass ihre Existenz mit Schmerz, Überforderung oder Ablehnung verbunden ist, entwickeln sie eine Art “existenzielles Schuldgefühl”: „Ich bin der Grund, warum es dir schlecht geht.“

Diese tief verwurzelte Schuld begleitet viele Menschen bis ins Erwachsenenalter – oft unausgesprochen und diffus.

Die Schuld, sich zu lösen – nach Mathias Hirsch

Wie der Psychoanalytiker Mathias Hirsch beschreibt, sind Schuldgefühle häufig mehr als moralische Reaktionen. Er unterscheidet zwischen:
- realer Schuld (aus konkreten Handlungen)
- übernommener Schuld (aus innerer Bindung und Identifikation)
- unbewusster Schuld (als Ausdruck eines Beziehungskonflikts)

Diese letzte Form zeigt sich oft in der Therapie, wenn sich ein Mensch schuldig fühlt, sich zu verändern, Autonomie zu entwickeln oder Nähe zuzulassen. Hirsch spricht hier von Wachstumsschmerz – der Preis für seelisches Reifen. Schuld wird dann zur inneren Reaktion auf das Loslassen alter Rollen, innerer Verbote oder familiärer Identifikationen.

Ein Beispiel: Die Tochter, die losging

Eine junge Frau beginnt ein neues Leben fern der Heimat. Sie liebt ihre Eltern – und doch fühlt sie sich schuldig, wenn sie sich freut. Sie sagt: „Wenn ich es gut habe, denke ich sofort daran, wie viel meine Mutter nie hatte.“

Ihr Schuldgefühl ist kein Zeichen von Schuld – sondern von Verbindung. Aber es hindert sie, ihr Leben wirklich anzunehmen.

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Was, wenn ich gar nicht so gut bin?

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Vielleicht bin ich einfach nur zu faul?