Vielleicht bin ich einfach nur zu faul?
Warum wir aufschieben - Ein psychodynamischer Blick auf Prokrastination
Es ist Abend. Der Bildschirm bleibt leer. Die Deadline rückt näher, doch du klickst dich durch Nachrichten, sortierst Gewürze, führst halbe Gespräche – alles, nur nicht das, was getan werden müsste. „Ich bin halt einfach faul“, sagen manche. Aber ist es wirklich so einfach?
Prokrastination, das Aufschieben von Aufgaben trotz besseren Wissens, ist kein seltenes Phänomen. Es ist nicht einfach „keine Lust“ oder „schlechte Organisation“. Oft liegt darunter eine komplexe innere Dynamik – eine leise Not.
Was bedeutet Prokrastination psychodynamisch?
Die Psychoanalyse hat sich früh mit Formen des Leistungsverhaltens beschäftigt. Namen wie Sigmund Freud, Karen Horney, Heinz Kohut oder auch Otto Kernberg werfen Licht auf das, was unbewusst mitschwingen kann: Selbstwert, Schuldgefühle, innere Konflikte mit elterlichen Repräsentanzen.
Dabei könnte man sagen:
Prokrastination ist nicht nur ein Handlungsaufschub. Es ist auch ein Gefühlsarchiv aus Angst, Hoffnungen und womöglich alten Kränkungen.
Was kann sich unbewusst zeigen?
Angst vor Versagen – Wenn ich beginne, könnte sichtbar werden, dass ich scheitere.
Überhöhte Ansprüche – Wenn ich nicht perfekt bin, bin ich nichts wert.
Vermeidung von Beurteilung – Jede Abgabe fühlt sich wie ein Urteil über meine Person an.
Prokrastination kann auch ein Protest sein – gegen innere Elternfiguren, die einst zu streng, zu fordernd, zu abwesend waren. Oder eine Wiederholung: das Gefühl, nicht gesehen, nicht gut genug, nicht gehalten worden zu sein. Manche Menschen beschreiben es so: „Wenn ich fertig wäre, müsste ich es zeigen. Dann würde ich mich ausliefern.“ Dies kann einem Akt des inneren Widerstands gleichkommen. Nicht gegen die Aufgabe an sich, sondern gegen das, was sie bedeutet.
Wenn ich „es“ mache – die Klausur, das Projekt, die Bewerbung – dann bin ich allein verantwortlich. Und das bedeutet vielleicht auch, meine Eltern zu entlasten, ihnen nicht länger die Schuld zu geben für das, was mir gefehlt hat. Wenn ich erfolgreich bin, könnte das heißen: „Ich bin jetzt erwachsen. Ich lasse euch los.“ Doch die kindliche Hoffnung, doch noch etwas zu bekommen – Anerkennung, Liebe, Stolz – lebt vielleicht noch. Und so zögern wir. Halten alles auf. Damit das Unausgesprochene bleibt, wo es ist.
Karen Horney etwa sah in vielen neurotischen Konflikten den Wunsch, Liebe zu bekommen: „Es gibt einen inneren Drang, dem eigenen Idealbild zu entsprechen – und gleichzeitig eine Angst davor, es wirklich zu erreichen.“
🟩 Zum Weiterdenken: Was kann noch hinter dem Aufschieben liegen?
Nicht immer ist es nur Angst vor Fehlern oder Perfektionismus. Manchmal wurzelt das Zögern tiefer:
Scham: Wer in der frühen Kindheit wiederholt beschämt oder abgewertet wurde, kann unbewusst vermeiden, sich zu zeigen – aus Angst, erneut beschämt zu werden.
Frühe Lernprägungen: Wenn Lernen mit Druck, Liebesentzug oder Überforderung verbunden war, kann Leistung heute Stress oder Widerstand auslösen.
Innere Konflikte: Das „Ich sollte“ und das „Ich will nicht“ kämpfen gegeneinander – manchmal ohne klare Sieger: Ein innerer Stillstand entsteht.
🟢 Eine psychodynamische Therapie kann helfen, solche verborgenen Muster zu erkennen und zu verstehen. Denn hinter dem Aufschieben steht oft nicht Unfähigkeit – sondern oftmals auch ein innerer Schutz.