Die stillen Spuren – Trauma, innere Orte und der Weg zurück zu sich
Traumatische Erfahrungen hinterlassen nicht nur sichtbare Spuren, sondern oft stille, innere Brüche. In der psychoanalytischen Traumatherapie zeigt sich, dass das, was einst unaussprechlich war, weiterlebt – in Körperempfindungen, in inneren Stimmen und in der Art, wie wir Beziehungen erleben.
Ein stiller Abdruck
Lina sitzt mir gegenüber.
Sie spricht ruhig, kontrolliert.
Bis sie plötzlich innehält.
„Es kommt gerade so rein... ich traue mich nicht, davon zu sprechen. Ich spüre es körperlich. Ich fühle mich verlassen.“
Ihre Hände zittern leicht. Ihr Atem wird kürzer.
Es gibt keine große Geschichte. Nur Körpererinnerungen: ein Ziehen in der Brust, ein Druck auf der Kehle, ein flüchtiger Schmerz in der Seite.
Lina kann nicht genau sagen, was passiert ist. Doch ihr Körper erinnert sich. Ihr Inneres weiß es noch.
Introjekte – Stimmen, die weiterleben
Manchmal taucht eine Stimme in Lina auf:
„Du bist selbst schuld.“
„Stell dich nicht so an.“
Diese Stimmen sind nicht ihre eigenen. Sie sind Introjekte – verinnerlichte Beziehungserfahrungen aus frühen Bindungen.
Introjekte entstehen oft, um eine Bindung aufrechtzuerhalten, selbst unter schmerzhaften Bedingungen. Sie wirken wie innere Abbilder: von Schutz, aber auch von Schuld, Scham oder Entwertung.
Ein Täter*innen-Introjekt kann entstehen, wenn Erfahrungen von Gewalt, Missachtung oder Beschämung innerlich abgespeichert werden – nicht als konkrete Erinnerung, sondern als Haltung gegenüber sich selbst.
Was einst von außen kam, wird Teil des inneren Dialogs: Vorwürfe, Abwertung, Verzweiflung.
Identifikation mit dem Aggressor bedeutet: sich unbewusst mit der Haltung des Täters zu verbinden – ein Überlebensmechanismus. Lieber Schuld empfinden, als Ohnmacht ertragen. Doch der Preis ist hoch: ein Selbst, das sich gegen sich selbst richtet.
Szenisches Verstehen – was in der Beziehung sichtbar wird
Im Therapieraum zeigt sich Trauma selten in klaren Worten. Stattdessen in Szenen:
wenn Lina plötzlich verstummt,
wenn sie sich entschuldigt, obwohl sie nichts falsch gemacht hat,
wenn sie Nähe sucht – und sie kaum erträgt.
Szenisches Verstehen bedeutet, diese Bewegungen zu erspüren. Nicht analysieren, sondern begleiten.
Leere, Selbsthass, Taubheit
Manchmal sagt Lina:
„Es ist, als wäre alles in mir leer.“
„Ich spüre nichts.“
„Ich hasse mich dafür.“
Diese Taubheit ist kein Versagen. Sie ist Schutz. Selbsthass ist oft das Echo alter Beschämungen – ein Versuch, Kontrolle zu behalten, wenn man einst hilflos war.
Körperliche Erinnerungen – der Körper spricht zuerst
Während Lina erzählt, spürt sie plötzlich:
einen Kloß im Hals,
ein schweres Herz,
zitternde Hände.
Die Erinnerung des Traumas zeigt sich zuerst im Körper, bevor sie bewusst verstanden oder erzählt werden kann. Wenn wir mit Atem, Haltung und Wahrnehmung arbeiten, können diese impliziten Spuren langsam in bewusste Erfahrung und Sprache übergehen.
Ein neuer innerer Ort
Im Laufe der Zeit entsteht etwas Neues. Nicht laut. Nicht spektakulär. Ein innerer Ort.
Ein Ort, an dem Lina sein darf – mit Angst, Scham, Wut und Sehnsucht. Ein Ort, an dem das Selbst nicht mehr fragmentiert ist. Ein Ort, an dem alle Anteile ihren Platz finden dürfen.
Praktische Impulse – erste Schritte im Umgang mit Trauma
Die Begegnung mit Trauma braucht Zeit, Geduld und Begleitung. Kleine Schritte können unterstützen:
Atmung bewusst spüren – ein tiefer Atemzug kann helfen, im Hier und Jetzt anzukommen.
Körperempfindungen wahrnehmen – sanft beobachten, ohne sie sofort verändern zu müssen.
Sichere Orte imaginieren – innere Bilder können Schutz und Halt geben.
Vertrauensvolle Beziehungen suchen – Heilung geschieht selten allein.
Diese Schritte ersetzen keine Therapie, können aber erste Brücken sein – hin zu einem neuen inneren Ort.
Schlussbild
Manchmal beginnt Heilung nicht damit, dass alles wieder ganz wird. Sondern damit, dass die Brüche gesehen, gehalten und geachtet werden – bis eines Tages ein leises Schwingen entsteht, und das eigene Selbst wieder atmet.
Heilung bedeutet nicht, Vergangenheit zu vergessen, sondern in der Gegenwart wieder Raum für Lebendigkeit zu finden.
*Hinweis: Die Figur Lina ist stilisiert. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist zufällig.*
Literaturempfehlung
Mathias Hirsch: Psychodynamik und Therapie von Traumafolgestörungen
Jörg Frommer: Psychodynamik des Traumas
Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft
Heinz Weiß: Täter-Opfer-Introjekte